Kann der Lernserver eine LRS diagnostizieren?
Der Lernserver liefert mit der Münsteraner Rechtschreibanalyse (MRA) die Grundlage für die Entscheidung, ob ein Kind unter LRS (Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten) leidet.
Dabei wird mittels einer standardisierten Diagnostik präzise der Prozentrang des einzelnen Kindes bestimmt, d.h. der Stand, auf dem es sich im Vergleich zu seiner Altersgruppe bundesweit befindet. Diese und weitere Kennzahlen sind eine wichtige Informationsbasis für Schulpsychologen oder Kinderärzte, die zuständig für die Diagnose von LRS-Problemen oder Legasthenie und damit dem Veranlassen von weiteren Maßnahmen sind. Mehr und mehr wird die Lernserver-Diagnostik mit ihrem Normierungsmodul auch als Grundlage für Entscheidungen von schulpsychologischen Diensten und Jugendämtern anerkannt. In aller Regel werden weitere Tests mit hinzugezogen, u.a. auch deshalb, um organische Ursachen wie Schwerhörigkeit oder Fehlsichtigkeit auszuschließen.
Das hauptsächliche Anliegen des Lernservers ist jedoch, möglichst jedem Kind die Förderung zukommen zu lassen, die es benötigt, um das Schreiben und Lesen zufriedenstellend erlernen zu können – unter welcher Überschrift auch immer. Auch dieser inhaltliche Förderbedarf kann mit Hilfe des Lernserver genau ermittelt werden. Für Schulen stellen sowohl die quantitativen Lernserver-Kennzahlen als auch die qualitativen Einordnungen der Testfehler eine wichtige Entscheidungshilfe dafür dar, ob und welche Fördermaßnahmen für einzelne Schüler eingerichtet werden sollten. Bei Schülern z.B., deren Testergebnisse zu einem roten Ampelsignal führen, lassen sich die Schwierigkeiten im unterrichtlichen Kontext nicht auffangen. Da sich solche Lernprobleme auch nicht von selbst "auswachsen", müssten Lehrer gemeinsam mit den Eltern schulbegleitende lerntherapeutische Maßnahmen ins Auge fassen. Ohne zusätzliche Unterstützung bliebe das Kind heillos überfordert, und der "Teufelskreis Lernstörungen" wäre vorprogrammiert.
Die Frage, wie nun die Schwierigkeiten eines Kindes genau zu klassifizieren sind, ob ein Kind also "Legasthenie", "LRS" oder eine "vorübergehende Schwäche" aufweist, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Zwar hat sich mittlerweile fachübergreifend die Sichtweise durchgesetzt, dass jedes Kind seine ganz eigene individuelle Problematik aufweist und seine Förderung im Vordergrund stehen sollte; dennoch gibt es vereinheitlichende Bestimmungen und Verordnungen zur Klassifikation, nach denen sich Lehrer, Schulen und Förderkräfte richten müssen. Leider haben wir es an dieser Stelle aber mit einem weiteren Dilemma zu tun, denn Legasthenie oder LRS wird in den einzelnen Bundesländern jeweils anders definiert und diagnostiziert. Für die Eltern und Förderkräfte von Kindern mit Rechtschreibschwierigkeiten heißt das: Sie müssen sich nach den aktuell geltenden Legasthenie-Erlassen ihres Bundeslandes richten. Zu erfragen sind die jeweiligen Richtlinien u.a. bei den Schul- bzw. Kultusministerien und im Internet. Für betroffene Eltern ist der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. eine wichtige Anlaufstelle.
Im Folgenden geben wir einen kleinen Abriss über den Forschungsstand und die Bemühungen um eine einschlägige Klassifikation, der den unten aufgeführten "Leitlinien zur Diagnostik und Therapie" entnommen ist: Der "international gültige Forschungsstand zur Legasthenie" wurde in der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10, Kapitel V, F) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlicht. Die BRD hat die darin festgelegten Kriterien anerkannt und für sich verbindlich übernommen. Vor allem die Vertreter des medizinisch-psychologischen Legasthenie-Modells berufen sich auf die ICD-10, da LRS/Legasthenie hier als Funktionsstörung des Gehirns gesehen und als "umschriebene Entwicklungsstörung" aufgeführt wird. International gelten folgende Merkmale für eine umschriebene Lese-Rechtschreibstörung:
Grundlage für die Klassifikation (und für die "multiaxiale Diagnostik") ist die Annahme, dass ein Versagen im Schriftspracherwerb nicht unbedingt eine "umschriebene Entwicklungsstörung" sein muss. Es wird deshalb eine systematische Untersuchung gefordert, die anders geartete Schwierigkeiten wie z.B. eine sekundäre Lese-Rechtschreibschwäche, eine Dyslexie oder eine Lese- Rechtschreibstörung aufgrund von Intelligenzminderung ausschließt. Für die formelle Diagnostik einer "umschriebenen Entwicklungsstörung" werden neben dem Kind, den Eltern und den Lehrern spezielle Fachkräfte aus unterschiedlichen Disziplinen herangezogen: Kinderärzte, Kinder- und Jugendpsychiater und Schulpsychologen. Die Diagnostik nach dem multiaxialen Klassifikationsschema (Diagnoseschema in 6 Achsen) ist nicht unumstritten, gilt aber mittlerweile international als zentraler Beleg für das Vorhandensein einer Lese-Rechtschreibstörung. Sie
Das multiaxiale Diagnoseschema gliedert sich in 6 Achsen. Es geht darum, Befunde auf mehreren, unterschiedlichen Ebenen einzuholen und zu bewerten.
Klinisch-psychiatrisches Syndrom (neurologische Befunde): Einschätzung der psychischen Entwicklung. Erhebung durch einen Kinder- und Jugendpsychiater oder durch einen Kinderarzt mit Zusatzausbildung. Ergänzende Informationen durch Eltern- und Lehrerberichte, Zeugnismitteilungen, Exploration und Beobachtung. Untersucht wird, ob das Kind an einer seelischen Erkrankung leidet, z.B.
Umschriebene Entwicklungsstörung der schulischen Fertigkeiten (Lese- Rechtschreibdiagnostik); Basisdiagnostik über standardisierte Testverfahren:
Weitere Untersuchungen bei Verdacht auf therapierelevante Defizite:
Intelligenzdiagnostik mit standardisierten Testverfahren
Körperliche Symptomatik, z.B.:
Erhoben werden die Befunde durch:
Als Ursachen für das Versagen im Lesen und Rechtschreiben bzw. Rechnen sind neurologische Erkrankungen oder Sinnesfunktionsstörungen wie Zerebralparese, Epilepsie, Seh- und Hörfunktionsstörung, sekundäres Lese- und Rechtschreib- oder Rechenversagen und Verlustsyndrom nach erworbener Hirnschädigung auszuschließen.
Aktuelle abnorme psychosoziale Umstände (Lebensumfeld: familiäre und schulische Gegebenheiten). Erhebung über Persönlichkeitsfragebogen, Anamnese und Exploration.
Der Grad der "psychosozialen Anpassung": Inwieweit ist das Kind durch die Störung beeinträchtigt? Hat die Störung "Krankheitswert"? Folgt aus der Lese-Rechtschreibstörung eine zumindest mäßige Beeinträchtigung, so ist in der Regel von einer drohenden oder aber bereits bestehenden seelischen Behinderung auszugehen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Eingliederungshilfe nach §35a KJHG. Einigen Gerichtsurteilen zufolge reicht der Befund einer umschriebenen, länger als 6 Monate andauernden Lese- Rechtschreibstörung nicht aus, um eine Eingliederungshilfe zu begründen, sondern es ist der ausdrückliche Nachweis vonnöten, dass eine Eingliederungsgefährdung besteht. "Eingliederungsgefährdung" meint, dass:
Dabei können Schulangst, totale Schul- und Lernverweigerung, Rückzug aus sozialen Kontakten und die Vereinzelung in der Schule als behinderungsrelevante seelische Störungen gelten. (Vgl. Dt. Ges. f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.): Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Deutscher Ärzte Verlag, 3. überarbeitete Auflage 2007 - ISBN: 978-3-7691-0492-9, S. 207 ff.)